Vorwort

Best, Heinrich / Weege, Wilhelm:
Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848 / 49.

496 S., Düsseldorf 1996. ISBN 3-7700-5193-9

Eine Sammlung von Biographien ist immer ein Lehrstück über das Verhältnis von Individualität und Gleichförmigkeit. Es belehrt uns über die Vielfalt der Einzelschicksale und zugleich über die Normen und Strukturbedingungen, die das individuelle Handeln in Kollektiven bestimmen. Das Ausmaß der Variation, das uns in den Lebensläufen begegnet, ist selbst ein wichtiger Hinweis auf die Verfassung einer Gesellschaft und einer Epoche. Die Extreme bilden einerseits eine Situation, in der sich eine Lebensgeschichte erzählen läßt, ohne historische Ereignisse erwähnen zu müssen, andererseits ein Zustand, in dem sich historische Ereignisse vollziehen, ohne durch die Individualität der Akteure geprägt zu sein.

Die Mitglieder der Frankfurter Nationalversammlung, deren Biographien in diesem Handbuch zusammengestellt und dokumentiert sind, nehmen auf dem Kontinuum, das sich zwischen diesen Grenzpunkten aufspannt, wohl einen Mittelplatz ein: Zum einen wurden die Lebensläufe der meisten Abgeordneten durch den Strukturzusammenhang des Verwaltungsstaats überformt und vereinheitlicht, denn mindestens 82,8 Prozent von ihnen (670 Abgeordnete) gehörten irgendwann einmal in ihrem Berufsleben dem Staatsdienst (einschließlich kirchlichem Dienst) an. Die charakteristischen Positionsfolgen der Laufbahnen in Justiz und Verwaltung begegnen uns gleichförmig in Serien von Biographien; andererseits entdecken wir auch hier Varianten, die sich durch die administrative Vielfalt der deutschen Einzelstaaten, die Interventionen eines belohnenden und strafenden Dienstherrn, nicht zuletzt aber auch durch die Länge des Berichtszeitraums ergeben, der – wenn wir die Spannweite von der Geburt des ältesten Abgeordneten (E. M. Arndt, 1769-1860) bis zum Todesjahr des letzten (J. N. Sepp, 1816-1909) abmessen -140 Jahre der deutschen Geschichte umfaßt. Tatsächlich ist das entscheidende Charakteristikum der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung die „Inkonsistenz“, die Abweichung von einer Norm, die sich durchsetzt, häufig aber drakonisch durchgesetzt wird.

Eine besondere Spannung gewinnt das Verhältnis von Individualität und Gleichförmigkeit durch den in zahlreiche kulturelle und staatliche Einheiten parzellierten geographischen Raum, in dem sich die Lebensschicksale der 809 Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung entfalteten. Bereits ein erster vorläufiger Blick auf die Biographien belegt den prägenden Einfluß des territorialen Hintergrunds auf die Lebensverläufe der Abgeordneten. Die unterschiedlichen Verfassungstraditionen, politischen Kulturen, staatlich-institutionellen Rahmenbedingungen, aber auch die verschiedenartigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind verhaltensbestimmende Strukturelemente, denen sich der einzelne nur schwer entziehen konnte. Vor dem Hintergrund der Vielgestaltigkeit des geographischen Raums wirken die strukturellen Determinanten individueller Lebensläufe mithin keineswegs als Faktoren, die auf eine Gleichförmigkeit des Gesamtkollektivs der Nationalversammlungsabgeordneten hindrängen. Strukturbedingte Ähnlichkeiten und individuelle Abweichungen von der Norm lassen sich daher nur unter Bezug auf die geographische Verankerung angemessen erkennen. Bezogen auf die Gesamtheit aller Nationalversammlungsmitglieder läßt sich die regionale Herkunft sicherlich als eine der wichtigsten strukturellen Ursachen für die Heterogenität und Verschiedenartigkeit der Lebensläufe der Abgeordneten bzw. Abgeordnetengruppen ausmachen; die geographisch bedingte Multiformität der Paulskirchenmitglieder dürfte als einer der wesentlichen Faktoren anzusehen sein, die die Konsensbildung im parlamentarischen Verhandlungsgang erschwerten und somit entscheidend zum Scheitern des vorrangigsten Anliegens der Nationalversammlung, der nationalstaatlichen Einigung, beitrugen.

Individuelle Besonderheiten, räumliche Vielfalt und zeitliche Tiefe markieren in besonderem Maße die inhaltlichen Problemzonen, mit denen sich die Erarbeitung eines kollektiv-biographischen Handbuchs auseinanderzusetzen hat. Im Gegensatz zur traditionellen historischen Einzelbiographik bietet die kollektive Biographik keinen Raum für eine ausführliche Darstellung individueller Lebensschicksale mit ihren mentalen und intentionalen Aspekten. Kollektive Biographik zielt auf die Erforschung historischer Personenkollektive in ihrem gesellschaftlichen Kontext anhand der vergleichenden Analyse der individuellen Lebensläufe der Kollektivmitglieder. Zum Zwecke des Vergleichs erfolgt die Darstellung jedes individuellen Lebenslaufs auf der Basis einer prinzipiell für alle Kollektivmitglieder Gültigkeit beanspruchenden standardisierten Normalbiographie. Eine solche normalbiographische „Einpassung“ unterschiedlichster Lebensverläufe an mehr oder weniger rigide vorgegebene biographische Standards bietet nur in sehr begrenztem Maße Spielraum für die Berücksichtigung von Abweichungen und Besonderheiten. Doch waren wir bestrebt, das den Biographien des vorliegenden Handbuchs zugrundegelegte normalbiographische Gerüst so weit abzustecken, daß neben dem Typischen auch Heterogenität und Vielgestaltigkeit der dargestellten Lebensläufe hinreichend erfaßt werden konnten. Ob dies tatsächlich gelungen ist, bleibt der Entscheidung des Handbuchbenutzers überlassen, entsprechende Anregungen und Vorschläge nehmen wir dankbar entgegen.

Das biographische Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts „Biographisches Handbuch der Abgeordneten Deutscher Nationalparlamente 1848 bis 1933“ (BIORAB), das von 1986-1991 am Institut für Angewandte Sozialforschung bzw. am Zentrum für Historische Sozialforschung in Köln unter der wissenschaftlichen Leitung von Heinrich Best und Wilhelm Heinz Schröder durchgeführt worden ist. Das vorliegende Handbuch ist der erste Band eines auf drei Teilbände angelegten biographischen Handbuchs deutscher Nationalparlamentarier von 1848 bis 1933; die beiden anderen Teilbände enthalten die Biographien der Abgeordneten des Norddeutschen Reichstags, des Zollparlaments und der Deutschen Reichstage 1867-1918 sowie der Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung und der Reichstage 1919-1933. Das biographische Handbuch-Projekt ist eingebettet in eine Reihe z. T. weit zurückreichender Bemühungen um eine kollektiv-biographische Erforschung des deutschen Parlamentarismus. Insbesondere zwei Forschungsprojekte wären in diesem Zusammenhang zu nennen: das von H. Best am Institut für Angewandte Sozialforschung in Köln geleitete Forschungsprojekt „Struktur und Wandel parlamentarischer Führungsgruppen in Deutschland 1848-1933“ (PARFUG) und das unter Leitung von W. H. Schröder an der TU Berlin durchgeführte Forschungsprojekt „Biographisches Handbuch der sozialdemokratischen Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867-1933“ (BIOSOP). Beide Projekte haben in konzeptioneller und methodischer Hinsicht das Projekt „Biographisches Handbuch deutscher Nationalparlamentarier“ entscheidend beeinflußt; Art und Form der in diesem Handbuch präsentierten biographischen Informationen sind grundsätzlich mit den Biographien des von W. H. Schröder bearbeiteten biographisch-statistischen Handbuchs „Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten 1898-1918“ (Düsseldorf 1986) kompatibel. Beide Projekte haben durch die Bereitstellung umfangreicher Quellen- und Datenbestände erst die Voraussetzung für die Zusammenstellung einer ausreichenden Informationsbasis für die Erarbeitung eines Handbuchs deutscher Nationalparlamentarier geschaffen. Die im Rahmen des Kölner Forschungsprojekts „Parlamentarische Führungsgruppen“ erarbeitete Habilitationsschrift von Heinrich Best „Die Männer von Bildung und Besitz. Struktur und Handeln parlamentarischer Führungsgruppen in Deutschland und Frankreich 1848/49“ (Düsseldorf 1990) liefert die kollektiv-biographische Analyse der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49. Das hier vorgelegte Handbuch enthält die biographische Grundlage, auf der die empirische Analyse fußt; beide Werke sind deshalb zueinander komplementär.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat durch eine großzügige Sachbeihilfe die Sammlung und Aufbereitung der in diesem Handbuch zusammengestellten Informationen unterstützt. Wir danken ihr für die Förderung dieses Vorhabens und die Geduld, mit der sie einem Abschluß entgegengesehen hat. Die Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn hat das Handbuch-Projekt von einer frühen Phase an in jeder Hinsicht gefördert. Sie war auch Mitantragstellerin gegenüber der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dr. Martin Schumacher und Prof. Dr. Rudolf Morsey haben das satzfertige Manuskript kritisch durchgelesen und die weitere Bearbeitung durch eine Vielzahl wertvoller Anregungen und Hinweise unterstützt. Hierfür, nicht zuletzt aber für die Aufnahme des vorliegenden Handbuchs in die Schriftenreihe der Kommission sind die Autoren zu Dank verpflichtet.

Ein kollektiv-biographisches Handbuch kann trotz weitgehender Standardisierung und Informationsbeschränkung nicht von einzelnen, sondern nur von einem „Kollektiv“ in einem überschaubaren Zeitraum erstellt werden. Alle Personen und Institutionen, die uns bei der Fertigstellung des vorliegenden Handbuchs unterstützt haben, namentlich zu erwähnen, wäre unmöglich. Deshalb sei hier pauschal allen Kolleginnen und Kollegen aus Wissenschaft und Forschung, die uns mit Rat und Tat unterstützt haben, herzlich gedankt. Unser besonderer Dank gilt Herrn Wilhelm Heinz Schröder, der uns nicht nur bei der Planung und Konzeption des vorliegenden Handbuchs nach Kräften unterstützt hat, sondern auch in jeder Phase des Projekts ein stets aufgeschlossener und kompetenter Ratgeber war.

Zahlreiche Archive, Bibliotheken, Standesämter und andere Institutionen haben uns bei der Erschließung und Auswertung umfangreicher Quellenbestände unterstützt; der großen Zahl hier anonym bleibender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gilt unser nachdrücklicher Dank. Eigens erwähnen möchten wir an dieser Stelle die Außenstelle Frankfurt des Bundesarchivs, deren Direktor Hans Schenk uns über Jahre hinweg die Auswertung der dort lagernden biographischen Materialien zu den Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung in großzügiger Weise ermöglichte. Die – zuletzt unter Leitung des 1988 verstorbenen ehemaligen Direktors der Frankfurter Außenstelle Rüdiger Moldenhauer – in mehreren Jahrzehnten aufgebauten „Biographischen Ausarbeitungen“ waren ein wichtiger Grundstein für die Datenbasis des vorliegenden Handbuchs. Ebenso hat die Universitäts- und Stadtbibliothek Köln durch ihre Beratung und ihre freundliche Bereitschaft, unsere nicht selten ausgefallenen Wünsche prompt zu erledigen, einen wesentlichen Beitrag beim Aufbau unserer Literatur- und Quellenbasis geleistet.

Ein ganz besonders herzlicher Dank gilt den studentischen Hilfskräften Martina Paulig, Simone Peters, Dagmar Gassen, Barbara Moog, Martina Zech, Ilona Renner, Ulrich Hettinger, Michael Herdam, Christopher Hausmann und Hans-Jörg Bradtmöller. Ohne ihre kompetente Mitarbeit bei den zahlreichen nach außen kaum sichtbaren, aber dennoch unabdingbaren Arbeitsaufgaben, wäre das Zustandekommen des Handbuchs nicht möglich gewesen. Gerade die für ein biographisches Handbuch unerläßliche, aber äußerst mühevolle Erschließung und Verarbeitung massenhaft anfallender biographischer Quellen und Materialbestände ist ohne ein engagiertes Team von Mitarbeitern unmöglich zu bewältigen. Aus diesem Grunde seien sie an dieser Stelle besonders hervorgehoben. Ralph Ponemereo stand dem Projekt von Beginn an mit Rat und Tat bei der Lösung EDV-technischer Probleme zur Seite, er war auch für die Konzeption und die Betreuung der Projekt-Datenbank „Abgeordnete deutscher Nationalparlamente 1848 bis 1933“ maßgeblich verantwortlich. Rainer Metz hat uns geduldig bei allen Fragen, die sich bei der Arbeit mit dem Tübinger System von Textverarbeitungs-Programmen (TU-STEP) ergaben – erwähnt seien hier vor allem die arbeitsaufwendigen Probleme des Datentransfers und der Registererstellung -, beraten und tatkräftig unterstützt.

Die langjährigen Forschungsarbeiten zu dem vorliegenden Handbuch wurden am Institut für Angewandte Sozialforschung der Universität zu Köln und dem Zentrum für historische Sozialforschung im Zentralarchiv für empirische Sozialforschung in Köln durchgeführt. Beide Institutionen haben das Projekt materiell und technisch in großzügiger Weise unterstützt. Ein ganz besonders herzlicher Dank gilt somit dem wissenschaftlichen Direktor beider Institute, Herrn Prof. Dr. Erwin K. Scheuch, der über J ahre hinweg die kollektiv-biographische Erforschung des deutschen Parlamentarismus konzeptionell und organisatorisch in jeder erdenklichen Hinsicht gefördert und unterstützt hat.

Köln, im Januar 1995Heinrich Best / Wilhelm Weege